Bamberg (ca. 1950-1966)

 Wilfried Böse wurde zwar 1949 in Bad Cannstadt geboren, doch zog seine Familie spätestens 1950 nach Bamberg und ließ sich zunächst im Haingebiet nieder, zog aber bald in die Bamberger Gartenstadt. Böse besuchte dort zunächst die Kunigundenschule (Grundschule). Seine damaligen Lehrkräfte haben ihn, sein Verhalten und seine Leistungen in bester Erinnerung. In den 50er Jahren wurden noch nicht viele Schüler pro Klasse für das Gymnasium empfohlen - Böse war einer davon.

Ab 1959 besuchte er die Oberrealschule Bamberg (heute: Clavius-Gymnasium), zunächst in der Klasse 1a mit 52 Schülern, wie damals nicht unüblich. Besonderheiten in Bezug auf seine frühe Zeit am Gymnasium sind nicht erkennbar. Im Zuge der Bildungsexpansion platzte die alte Oberrealschule bald aus allen Nähten, und daher wurde 1965 "auf der grünen Wiese", auf dem Weg von der Innen- in die Gartenstadt, das Dientzenhofer-Gymnasium eröffnet, auf das Böse mit einer von zwei 11. Klassen wechselte.


Wilfried Böse am Dientzenhofer-Gymnasium (DG)

Böse (rechts) auf Klassenausflug mit einem Lehrer.  Foto: Hermann Dietz
Böse (rechts) auf Klassenausflug mit einem Lehrer. Foto: Hermann Dietz

Laut Jahresberichten wurde Böse erst 2., dann auch 1. Klassensprecher. Nach Aussage mehrerer Mitschüler vertrat er die Klasse in Diskussionen mit dem Direktorat mutig und engagiert - manche Lehrkräfte haben sein Auftreten zuweilen auch als frech empfunden. Seine klar links orientierte, offen sozialistische bzw. kommunistische politische Einstellung war für die Mitschüler und Lehrkräfte bereits zu dieser Zeit deutlich erkennbar. Der damalige Gesamt-Schülersprecher (mit eher konservativer Einstellung) erinnert sich aber an eine gute, freundliche und völlig problemlose Zusammenarbeit mit Böse.

Klassenfoto aus dem Dietzenhofer-Gymnasium, wohl 1965/66. Böse sitzt in der vorletzten Bank ganz links.
Klassenfoto aus dem Dietzenhofer-Gymnasium, wohl 1965/66. Böse sitzt in der vorletzten Bank ganz links.

Böse wird von Mitschülern als intelligent und redegewandt, aber zumindest in einigen Fächern auch als sehr faul beschrieben. Er bekam daher auch leistungsmäßig Probleme an der Schule und machte sich nicht bei jedem Lehrer beliebt. Zwei Fotos, von einem Mitschüler Böses aufgenommen, belegen dezent Böses durchaus eigenständiges und mutiges, von manchen Lehrkräften aber auch als frech empfundenes und sicherlich provokantes Verhalten: An einem Faschingstag im Skikurs trat er mit kurzer Hose zum Skifahren an - der betroffene Lehrer hat das erst im Nachhinein mit Humor nehmen können. Und bei einem Wandertag führte die Klasse - ohne Absprache mit dem Lehrer - einen Bollerwagen mit Bierfaß mit, und Böse erscheint auf dem Bild als Ideengeber und "Zugpferd". Er eckte bei manchem Lehrer an.

Fotos: Hermann Dietz
Fotos: Hermann Dietz

Das Dientzenhofer-Gymnasium war eine neue Schule mit zahlreichen sehr jungen Lehrkräften, von denen manche der entstehenden 68er-Bewegung sehr offen, durchaus auch fördernd gegenüberstanden - völlig typisch für die Zeit. Möglicherweise geriet Böse hier in gewissem Sinn zwischen die Stühle: Einerseits erhielten die Klassensprecher und SMV-Vertreter einigen Rückhalt. Die Theatergruppe, mit der Böse sich an die Erarbeitung des anarchischen Stücks "Pere Ubu" von Albert Jarry machte, verstand sich - von ihrem charismatischen und sehr kompetenten Leiter gefördert - als Avantgarde, die sich gern abends in den Szene-Kneipen Bambergs traf und bei viel gutem Bamberger Bier und Zigaretten lange Diskussionen führte - Böse ganz und gar dabei. All dies wurde wohl von anderen Mitgliedern des Kollegiums mit Argwohn betrachtet. 

 

Im Herbst 1966 wurde Böse vor den Disziplinarausschuss der Schule zitiert, weil er einige Tage "blau gemacht" und auf den entsprechenden Entschuldigungen die Unterschrift seiner Eltern gefälscht hatte. Ein Vergehen, für das wohl heutzutage eine ähnliche Bestrafung wie damals für Böse herauskommen würde: die Androhung der Entlassung von der Schule. Aus dem Protokoll der Sitzung wird klar, dass sich einige Lehrkräfte für Böse einsetzten, andere dagegen ein hartes Vorgehen gegen ihn forderten - nichts Besonderes. Ein Direktoratsmitglied hegte aber wohl doch besonderen Groll gegen Böse: Im Laufe des Schuljahres hatte es sich von Böse in einem Gespräch hintergangen gefühlt und vor der Ausschuss-Sitzung - nach Aussagen der Eltern - Böses Eltern in die Schule bestellt und zu dem Sachverhalt getrennt voneinander befragt - das heißt, er hatte es bewusst unterbunden, dass sich die Eltern "auf eine Linie" einigen konnten. Dieses Vorgehen der Direktoratslehrkraft, die in der Disziplinarausschuss-Sitzung ein hartes Vorgehen gegen Böse forderte, haben die Eltern Böses erkennbar als Demütigung aufgefasst - eine Episode, die wahrscheinlich keine weitere Person an der Schule wahrgenommen hat. Insofern haben möglicherweise drei Faktoren zur Entscheidung der Familie Böse beigetragen, Wilfried Böse die Schule und den Wohnort wechseln zu lassen: Man wollte einer möglichen Entlassung am DG ausweichen, eventuell auch Böse einer stärkeren Disziplinierung seines Verhaltens unterziehen, aber auch auf die empfundene Demütigung reagieren.

Die Schilderung eines Mitschülers (hier genannt: A) stützt diese Lesart: Das Direktorat des DGs sei generell sehr tolerant gewesen und habe eine moderne, liberale Schule angestrebt. In diesem Sinne seien Aktivitäten und Ideen der Schüler auf großen Rückhalt gestoßen. Es sei z.B. früh ein Raucherzimmer eingerichtet worden. Und Böse speziell habe es in einer Diskussion mit dem Direktorat geschafft, dass der Klasse auf deren Wunsch ein neuer Erdkundelehrer zugewiesen worden sei, der die Klasse freundlicher benotet habe. Aus Anlass der Disziplinarausschuss-Sitzung sei Böse dann aber plötzlich vom Direktorat fallen gelassen worden und sei zu eitel gewesen, sich dagegen angemessen zu wehren. Sinngemäß habe er behauptet, die "Reaktion" habe sich gegen ihn gewandt und gesiegt.

 

Kommentar aus Sicht eines heutigen Lehrers (Rafael Rempe)

 

Zwei sehr ernste, wichtige Bemerkungen vorab: Einerseits wissen wir natürlich immer noch nur sehr wenig über Wilfried Böse - mittlerweile zwar schon recht viel, aber es sind doch nur Mosaiksteinchen, die zu einem großen Bild gehören, dessen Ausmaß (und Steinchenzahl) wir nicht genau benennen können. Viele der gefundenen „Steinchen“ sind interpretationsbedürftig und können durchaus unterschiedlich bewertet werden. Insofern bleibt unsere Arbeit ein Prozess.  Und andererseits – ein banaler, trotzdem wichtiger Hinweis - weist Böses Lebensweg keine Zwangsläufigkeit auf – dass man diesen Weg erklären kann, bedeutet nicht, dass es für Böse keine Handlungsalternativen gegeben hätte.

 

 

In Zusammenhang mit Böses Schulerlebnissen ist sehr wichtig und für die damalige Zeit nicht untypisch: Das Kollegium des DGs vertrat zu einem Teil den „alten“, autoritären, konservativen Erziehungsstil, der von den werdenden 68ern zunehmend kritisiert wurde; viele jüngere Kollegen dagegen ermunterten die Schüler dazu, einen eigenen Standpunkt zu finden, selbständig zu denken und eigene Positionen und Forderungen auch selbstbewusst und entschieden zu vertreten. Böse war in diesem Zusammenhang ein Schüler, der sich im Sinne und nach den Erziehungszielen vieler heutiger Kollegen entwickelte: Er war engagiert, eigenständig, reflektiert und vertrat seine und die Interessen seiner Mitschüler selbstbewusst – rein positiv betrachtet könnte man zusammenfassen: ein Beispiel für Zivilcourage. Wurde er hier zwischen den verschiedenen „Fraktionen“ im Lehrerkollegium zerrieben? Fand er im entscheidenden Moment nicht die Unterstützung, die er gebraucht hätte – nicht im Sinne dessen, dass man seine Vergehen übersehen wollte, aber in dem Sinn, dass sich jemand hinter ihn stellte und ihn vor zu harten Maßnahmen oder Folgerungen schützte und ihn unterstützte?

Böse hat Ähnliches nicht allein erlebt, und natürlich ist diese Episode nicht für seinen Weg in den Terrorismus verantwortlich – erst recht will ich hier nicht die ehemalige Kollegen beschuldigen, die genauso verantwortungsbewusst ihre Aufgabe wahrzunehmen versucht haben wie ich heute. Ich sehe in dem Vorfall aber dennoch einen Ansatz von „Entwurzelung“: Mein Eindruck ist, dass sich Böse (und seine Eltern) fallen gelassen gefühlt haben, dass Böse eine Brücke hinter sich abgerissen hat, das „Establishment“ in seinen Augen versagt hatte, auch Hemmschwellen herabgesetzt wurden. Er konnte sich in Ansbach "neu erfinden", als Außenseiter und Beobachter eine neue Rolle probieren, sich auf eine Rolle als Rebell vorbereiten. Eine gute Richtung war es nicht, die sein Lebensweg an dieser Gabelung genommen hat.

Fazit für mich persönlich: Auch heute gibt es eine Tendenz, unliebsame Schüler „wegzuschieben“ und bei Disziplinschwierigkeiten deren Schulwechsel dankbar hinzunehmen – gerade solche Schüler aber brauchen Begleitung und das Gefühl, dass man sie nicht allein lässt, nicht fallen lässt. Und natürlich ist es wünschenswert, Schüler nicht durch entgegengesetzte Erwartungen verschiedener Lehrkräfte in Schwierigkeiten zu bringen. Und ein Drittes: Zivilcourage – meist rein positiv gesehen - ist zunächst ein neutraler Wert: Es gilt auch abzuwägen (und bei den Schülern ein Bewusstsein dafür zu wecken), wann und zu welchen Zwecken (welche) Zivilcourage sinnvoll ist. Ich selbst wünsche mir von meinen Schülern Zivilcourage; und in den 60er Jahren war in der Bundesrepublik in dieser Hinsicht sicherlich ein klarer Rückstand aufzuarbeiten. Böses Zivilcourage ging allerdings bald in eine völlig falsche Richtung.

 

Wilfried Böse beim Klassenausflug und Anstechen des Bierfasses.  Foto: Hermann Dietz
Wilfried Böse beim Klassenausflug und Anstechen des Bierfasses. Foto: Hermann Dietz

Freizeit

 

Was Hobbys von Wilfried Böse angeht, berichtet Mitschüler A, dass Böse für kurze Zeit eine Musikband gegründet hat. Er habe auch versucht, den in Bamberg beliebten Basketballsport zu betreiben: Sein Talent dafür sei aber recht gering gewesen, und er habe Niederlagen schwer verkraften können. Mitschüler A - damals ein enger Freund Böses - beschreibt Böses Charakterzüge heute kritisch: Der habe ein großes Ego gehabt, immer wieder Bestätigung gesucht, sei häufig zynisch, arrogant und eitel aufgetreten.  Beim Tanzkurs mit sehr konservativer Kleiderordnung habe er durch seinen offenen Krawattenknoten einen besonderen Akzent gesetzt. Ein anderes Kennzeichen von ihm sei es gewesen, dass er zu Treffen stets mit einer Stofftüte mit einem Laib Brot und einigen Vitamintabletten darin erschienen sei und vorgegeben habe, nichts weiter zum Leben zu brauchen. Böse habe sich nichts gefallen lassen und habe alles Neue probiert, mit dem er bei anderen Eindruck machen konnte. Schon an der Schule sei er zunehmend linksradikal geworden und habe sich auch privat immer mehr linksradikalen Kreisen zugewandt.

 

Kein anderer Gesprächspartner aus der Bamberger oder Ansbacher Zeit hat ähnlich kritische Aussagen zu Böse getroffen. Als eines von Wilfried Böses Hobbys ist das Segelfliegen verbürgt, das er durch seinen Vater kennen lernte.  Er las gern und viel, war sehr kontaktfreudig und umgänglich. Kleidungsmäßig setzte er wohl früh auf einen eigenen Stil: Auf den Klassenausflugs-Fotos fällt auf, dass er modisch auf dem neusten Stand war; wenig später (noch in Bamberg) sollen seine Markenzeichen ein langer schwarzer Mantel und ein Arztkoffer als Schultasche gewesen sein (immerhin zweifach bezeugt).  Niemand aus dem  Kreis der Bamberger Freunde und Mitschüler hätte es für möglich gehalten, dass Böse einmal Terrorist wird; alle waren 1976 von der Nachricht über die Beteiligung Böses in Entebbe völlig überrascht und hatten keinerlei Anzeichen für seine Entwicklung in diese Richtung wahrgenommen.

Wilfried Böse soll bei Mädchen bzw. später Frauen sehr gut angekommen sein. Angeblich soll er schon in Bamberg mehrere Freundinnen gehabt haben, unter anderen auch für kurze Zeit die spätere RAF-Terroristin Christine Dümlein. Inwieweit hier Mythen gebildet wurden, ist unklar.

Böse beim Tanzkurs, im Bild ganz rechts

Obwohl Böse früh, in Bamberg schon, eine politisch links orientierte Einstellung entwickelte, nahm er vor 1968 wohl keinen Anteil an der entstehenden Bamberger APO: Die war durchaus lebendig und rekrutierte viele Mitglieder aus den Bamberger Gymnasien. Böse aber blieb nach Aussagen eines weiteren Mitschülers (hier B genannt), der selbst politisch sehr aktiv war, abseits und spottete, in einer Kneipe sitzend, über die Bemühungen der anderen. Ab 1967 war Böse natürlich nur noch an den Wochenenden und in den Ferien in Bamberg. 1968 versuchte er hier wohl an die APO-Szene Anschluss zu finden, wurde aber von deren Wortführern als "Babyface" angesehen, das nicht recht ernst zu nehmen sei. Innerhalb der Bamberger 68er-Bewegung blieb Böse also sehr blass.

Nach dem Abitur haben die früheren Freunde und Klassenkameraden aus der Schulzeit keinen engen Kontakt mehr mit Böse gehabt. Werner Kohn, mit dem er öfters in der Weinstube Pizzini zusammentraf, und auch seine Eltern wussten von Böses recht radikaler politischer Einstellung: Sowohl die Eltern als auch der Bamberger Fotograf berichten unabhängig voneinander, dass Böse ihnen immer wieder erklärt habe, trotz seiner oppositionellen Haltung niemals Gewalt gebrauchen zu wollen. Wie wir heute wissen, war das schon sehr früh eine klare Lüge.